Reisen ist Schund
"Des Reisens vorerst wieder genug. Reisen ist Schund. Reisen heißt, sich über grobe und spitzbübische Menschen ärgern, von Leuten bedient werden, die zu wenig Zeit für mich haben, weil sie zu viele bedienen müssen, die fortschnurren, wenn ich etwas frage, etwas bestelle. Reisen heißt in Zimmern wohnen, wo der Stiefelknecht fehlt oder zu weit, wo der Schrank nicht schließbar ist, weil der Reisende in Twist oder auch die Gräfin X. gestern aus Versehen den Schlüssel mitgenommen hat, oder der Schlüssel zwar steckt, aber nicht geht. Reisen heißt in dummen Betten schlafen (Italien ausgenommen), auf unsinnig konstruierten Sesseln, in wahnsinnig gepolsterten Coupés sitzen. Reisen heißt schamlos wohnen, in Gasthöfen nämlich, wo überall die Zimmer nur durch eine dünne Türe vom Nachbarzimmer getrennt sind; der hört also jeden Laut, und die Folge ist, daß man notwendig meinen muß, er sehe einen auch, zum Beispiel nackt beim Hemdwechsel; reisen heißt mit absurden Menschen sein müssen, wenn man einsam sein will, am meisten, wenn man mit der keuschen Natur andächtig verkehren möchte, dagegen einsam sein, wenn man sich nach Menschen sehnt; reisen heißt ewig packen müssen, und ein Fürst hat es nur scheinbar besser, ihm besorgt die Sache sein Marschall durch die Bedienten, aber wer besorgt ihm seinen Marschall und wer besorgt ihm, daß er nicht besorgt, sein Marschall besorge es ihm nicht recht? Dennoch muß man reisen, denn der Schund stärkt den Charakter. Und übrigens nachher vergißt man all die Not und eine Welt neuer Anschauungen – wenn anders man zu schauen wußte – bleibt. – Nebenher auch Argument gegen den Pessimismus."
[Friedrich T. Vischer: Auch Einer, Eine Reisebekanntschaft, 1879]
[Friedrich T. Vischer: Auch Einer, Eine Reisebekanntschaft, 1879]
BusterG - 17. Sep, 12:39
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