Mittwoch, 14. Februar 2007

Bach ist endgeil - wir sind die Buben

Wir haben alles ausprobiert
Die Freiheit endet hier
Wir müssen jetzt
Durch diese Wand
[Tokio Hotel: Übers Ende der Welt, 2007]

Ich darf zurzeit ungewöhnlich oft meinen scheinbar plötzlich vereinsamten HNO-Arzt besuchen. Offensichtlich geht es ihm nicht gut, er wünscht sich jedenfalls täglich meine Nähe und Ansprache. Um dies etwas zu verdecken, tut er so, als ob ich sein Patient wäre und er mein Arzt: Nun hantiert er täglich mit allerlei Gerätschaften in meinem Kopf herum - während er wehmütig seine letzten Segelabendteuer memoriert – und stopft mir schließlich an die zwei Meter Binde und eine halbe Tube Salbe ausnehmend linkisch ins rechte Ohr. Solchermaßen den Kopf auswattiert und auch um das unzumutbare Gefühl des stocknüchternen Taumelns auszugleichen, wurde es mir zur lieben Gewohnheit im benachbarten Cafe zeitungslesend den Tag ein zweites Mal und sehr viel beschaulicher zu beginnen.

Während ich in mich gekehrt bei einem Kännchen Earl Grey neue Gelehrsamkeiten für meine Vieltausenköpfige Leserschaft ersinne, dringen zwischen dem zaghaften Gemurmel der nie Erwachenden Kleinstadt nebelhaft Satzfetzen vom Nebentisch „Partita“, „Kantate“ und „Choral“ an mein auswattiert-geschundenes Sinnesorgan. Ein zaghaftes Umblicken befördert einen Mann und eine Frau in mein Blickfeld. Beide im so genannten besten Alter also jenseits der Zeugungsfähigkeit, vermutlich auch von ersten Demenzanfällen heimgesucht und beider kalt-verhärmte Mimik zeugt davon, dass sie das Leben bereits weit hinter sich gelassen haben. In ihm erkenne ich den Dorfpopen, die andere ist mir zunächst unbekannt, outet sich aber im Verlauf des weiteren Geschehens als Musiklehrerin.

Nun bin ich keinesfalls der Mensch, der nichts anderes zu tun hätte als im Cafe zu sitzen und seine Mitmenschen zu belauern und belauschen. Die Unterhaltung wurde jedoch - offensichtlich altersbedingt - in einer Lautstärke geführt bei der ich Mühe hatte, wegzuhören. Destilliert man die Kernthese der weitgehend sinnentleerten vormittäglichen Kaffestunde zwischen beiden, erhält man die abenteuerliche wie krude These, dass „der Jugend“ heutzutage jedwede Achtung vor der klassischen Musik fehle und sie deshalb „solche Dinge“ tue und nie „ihren Mann im Leben stehen wird“.

Für mich war es zu diesem Zeitpunkt nur noch die Frage wie und nicht mehr dass ich eingreifen musste. Nicht dass ich etwa ein Vertreter „dieser Jugend“ wäre oder „solche Dinge“ täte, aber in aller Öffentlichkeit und vor allem in meiner Gegenwart, darf einfach nicht jeder Allesmögliche denken oder dies gar so laut aussprechen, dass selbst ich Hörgeschädigter es nicht überhören kann.

„Ich erstarre ja in Ehrfurcht, wenn ich die harmonische Gestaltung in Bachs Kreuzstabkantate verfolge“, veranschaulicht der Pope was er unter korrekter Haltung versteht und sie pflichtet ihm lächelnd wie nickend immerfort bei und ergänzt, dass der Bach schon ein ganz großer sei und der Mozart doch über ihn ganz und gar ehrfürchtig gesagt habe „Bach ist der Vater, wir sind die Buben“.

„Bach ist so was von endgeil“ sage ich nun doch etwas zu unbeherrscht aber so laut, dass das ganze Cafe auf mich blickt, launisch in Richtung der Musiklehrerin noch „es ist doch Allgemeingut, dass das Mozart Zitat Carl Philipp Emmanuel Bach adressiert und nicht Johann Sebastian“. Beide schauen entgeistert erst sich dann wieder mich an, schweigen eine halbe Tasse lang und beginnen dann zögernd leise, fast wispernd, ein Gespräch über das Wetter.

Zu Hause angekommen habe ich alter Sack nichts besseres zu tun als den „Actus tragicus“ in Karl Richters Aufnahme von 1967 aufzulegen und während Theo Adam mit drohendem Bass erklingt: „Bestelle dein Haus; denn du wirst sterben und nicht lebendig bleiben!“ und der Münchner Bachchor bestätigend einfällt: „Es ist der alte Bund: Mensch, du musst sterben!“ denke ich noch, bevor ich ganz entrückt werde: Von nix eine Ahnung aber über „solche Dinge“ reden wollen …

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