Dienstag, 17. Juni 2008

Herr A. kam nicht bis Düsseldorf

„Visions, Missions, Exit-Strategien – ich mache was sie so brauchen“ antworte ich ihm über meine Lesebrille hinwegblickend mit sorgfältig einstudierter Überheblichkeit auf seine Frage, ob ich als „Philosoph“ auch für Finanzdienstleister beratend tätig würde. Es gelingt mir dabei so gerade eben, dem Geflunker nicht auch noch eine Verbindlichkeit zu unterlegen, als ob es gelte zwischen uns einen Bausparvertrag für die nächsten dreißig Jahre auszuhandeln.

Ein Banker aus Düsseldorf ist mein Gegenüber den die verheerenden Fehlspekulationen der letzten Monate stetig weiter nach oben befördert haben. Nun sitzt er mir in der üblichen schwarzen Le Corbusier-Sitzgelegenheit gegenüber wie sie Banker in ihre weiträumigen Vorstandsetagen zu stellen pflegen. An den Wänden dekorativ pop-artiges, sehr unaufdringlich und überaus stimmig inszeniert; ohne kleinste Brüche, die darauf hinweisen könnten, dass hier gelebt wird. Heißen Menschen, die Betonfluchten solcherart aufhübschen eigentlich immer noch ‚Raumausstatter’?

Aristoteles vertritt die These, dass das Ziel aller absichtlichen Handlungen das im „guten Leben“ verwirklichte Glück ist – lag es daran, dass er keinen Shareholder Value, ja gar keine Banker kannte? Über Ethik hatte er mich gebeten zu referieren, fünfundvierzig Minuten vor einer handverlesenen Zahl seiner Kollegen. Ich dürfe auch gerne, hat er, ganz um eine vertrauliche Atmosphäre bemüht, noch zweifach am Telefon nachjustiert, die aktuelle Bankenkrise „zum Aufhänger machen“.

Und so habe ich ihm den Gefallen getan und aufgehangen, bin professorenhaft konzentrische Kreise abgeschritten um seine Kollegen, die in den Freischwingern wippten wie Schulkinder es zu meiner Zeit taten, die ihre Hausaufgaben nicht gemacht haben. Ich war unverfroren - und offen gestanden auch beschäftigt - genug gewesen mich nicht vorzubereiten, nur eine Handvoll Zitate auf einem USB-Stick, der war dafür jedoch der Etage sehr angemessen goldfarbengrell. Die anschließende Erörterung war jedenfalls so kurzatmig bemüht wie ziellos. Einer der Herren glaubte gar über so etwas wie Halbbildung zu verfügen, was freilich schnell und bestimmt ausgeräumt werden konnte. „Sehen Sie, dafür verstehe ich so gar nichts vom Optionshandel in Chicagoer Schweinehälften“ habe ich ihn später geflissentlich freundlich verabschiedet und zweifle zwischenzeitlich sehr, ob er für das Erkennen solcher Boshaftigkeit überhaupt mit hinlänglich Sensoren ausgestattet ist.

Ethik gilt für Aristoteles als eine philosophische Disziplin, die den gesamten Bereich menschlichen Handelns zum Gegenstand hat, diesen Gegenstand mit philosophischen Mitteln einer normativen Beurteilung unterzieht und zur praktischen Umsetzung der auf diese Weise gewonnenen Erkenntnisse anleitet. Die von den Sophisten vertretene Auffassung, dass es für ein Vernunftwesen wie den Menschen unangemessen sei, wenn dessen Handeln ausschließlich von Konventionen und Traditionen geleitet wird bereite hierfür den Boden. Spätestens seit Aristoteles die Auffassung vertrat dass menschliche Praxis grundsätzlich einer vernünftigen und theoretisch fundierten Reflexion zugänglich sei, wissen wir jedoch gesichert, dass Aristoteles nie bis Düsseldorf kam.

Die Frau meines Gastgebers wurde hinzubestellt zum abschließenden Abendessen in „kleiner Runde“. Sehr unüblich eigentlich solche Besetzung eines Geschäftstermins um einen Vertrag auszuhandeln und noch überraschender aber für mich recht schnell zu erkennen, dass mein Gegenüber seine Frau, eine deutlich jüngere Brasilianerin, in seiner zwischenzeitlichen Position scheinbar schon mehr als Stigma begreift denn als den üblichen Zierrat. Meine fünf Worte Português mit der ich sie begrüße führen jedenfalls zu einer für mitteleuropäische Managementkreise deutlich zu emotionalen Begrüßung. Sie stellt sich als „Vera Cristina“ vor und ihr Mann scheint fortwährend zu leiden unter den überaus sympathischen Missachtungen geltender Verhaltensregeln seiner heute zu bunt bekleideten Gattin.

Das abschließende Essen findet, gerade so als ob es gelte einen größtmöglichen Kontrast zur chromglänzenden Vorstandetage zu finden, in einer Art Cantina im Düsseldorfer Süden statt. Der „echte Geheimtipp“ erweist sich als ebenso fragwürdig wie vieles an diesem Tag und fügt sich schon deshalb überaus angemessen ein. „Also wir können von Ihnen“ sagt mein männliches Gegenüber mit jovialer Betonung auf dem „wir“ beim letzten Glas Tapada Grande tinto und meint damit nicht das vor mir sitzende ungleiche Ehepaar sondern das Unternehmen mit dem er sich überaus eifrig zu identifizieren scheint, „noch jede Menge profitieren“. Aber im letzten Moment hält er die kurz aufzuckende Hand zurück die mir den für einen derben Kuhhandel angebrachten Handschlag anzubieten scheint. „Profitieren?“ erwidere ich sicher eine Handbreit zu unterkühlt, „ging es nicht irgendwie um Ethik angesichts der Bankenkrise?“ und proste Vera Cristina demonstrativ eine Sekunde länger als wahrscheinlich angemessen zu.

„Nicht um zu wissen, was die Tugend ist, machen wir die Ethik zum Gegenstand unserer Betrachtung, sondern damit wir tugendhafte Menschen werden, denn was hätten wir sonst für einen Nutzen davon?“ [Aristoteles, Nikomachische Ethik]
„Ethik kann so wenig zur Tugend verhelfen, als eine vollständige Ästhetik lehren kann, Kunstwerke hervorzubringen.“ [A. Schopenhauer: Aphorismen]

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