Geschichten von Gestern

"Nichts ist unglaubwürdiger als die Wirklichkeit."
[Fjodor M. Dostojewski]

Zum ersten Mal hörte ich von ihm bei einem guten Glas Lemberger auf einer Terrasse in Stuttgart-Degerloch: Olympia-Architekt Günter Behnisch hatte eine Handvoll Bewunderer um sich gesammelt und ich war versehentlich anwesend als Organisator eines interdisziplinären Kolloquiums das irgendeinen Vortrag von ihm vorsah und hatte sicherheitshalber den Wein mitgebracht - eine lästige Geste, verursacht durch tiefes Misstrauen, dass der Grossteil der Mitmenschen nicht in der Lage ist eine ordentliche Flasche Wein von Frostschutzmittel zu unterscheiden. Zu vorgerückter Stunde, als mein Wein längst getrunken war und ich feststellen musste, dass der Gastgeber sehr gut in der Lage war einen guten Wein nicht nur zu kennen sondern auch seinen Gästen zu öffnen, erzählte Behnisch von Väterchen Timofei, der es geschafft hatte, eine komplette Olympia-Planung zu verrücken.

Väterchen Timofej lebte in einem traumhaften Garten in Oberwiesenfeld - mitten in München - mit zwei kleinen Häuschen, einer Kapelle und einer Kirche. Das alles hat Timofej aus den Trümmern gebaut, die nach dem Krieg herumlagen – natürlich ohne Baugenehmigung. Er wurde ungefähr 110 Jahre alt, so genau weiß man das nicht. Den Garten konnte und kann auch heute jeder betreten. Ich war einer von vielen, die Väterchen Timofej immer wieder besuchten, das erste Mal aus Neugier nach dem Abend bei Behnisch – danach immer wenn ich in München war und Zeit hatte. Dann ging ich mit einer Flasche Wodka oder Selbstgebranntem zu ihm und wir redeten den ganzen Abend über Puschkin, Dostojevski oder die aktuelle Politik in Russland und hörten Schostakovitsch dazu – gegen später auch gerne Mitki, ist besser zum mitsingen.

Väterchen Timofej hieß eigentlich Timofej Wasiljewitsch Prochorow. 1943 ist ihm mehrfach die Muttergottes erschienen, das hat er immer, wenn ich ihn besucht habe, händeringend und äußerst plastisch geschildert. Maria befahl Timofej eine Kirche in München zu bauen. Gemeinsam mit seiner Gefährtin Natascha ging Timofej ans Werk und baute die „Ost-West-Friedenskirche“ auf dem Fundament einer Flakstation. Um sie herum schuf er den traumhaften Garten.

20 Jahre später kam Günther Behnisch in Spiel: Genau an der Stelle, wo Väterchen Timofejs paradiesische Enklave steht, sollte das Reitstadion für die Olympiade 1972 gebaut werden. Die Presse und viele Münchner wollten dies verhindern. Der Architekt besuchte damals Väterchen Timofej um ihn zu überreden, fortzuziehen. Als der Abend zu Ende war, war Behnisch überzeugt: Timofej muss bleiben, das Reitstadion wurde ans andere Ende der Stadt nach Riem verlegt. Timofej war Mönch – die Orthodoxen wurden nicht müde ihn einen Laien zu nennen. Er war ein "Berufener", den das nicht sehr gekümmert hat und mit Atheisten wie mir hat er in Freundschaft gerungen um den "richtigen Weg", jede Sekunde seines unglaublichen Lebens.

Heute vor zwei Jahren ist Väterchen Timofej gestorben. Sein Garten bleibt offen. Freunde pflegen ihn wie die Gebäude und alle, die ihn je kennen gelernt haben, wissen: Timofej lebt dort weiter.

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