[Connolly Station, Dublin. Buster 2007]
BusterG - 29. Nov, 14:56
Jonathan Swift, der Dekan der St. Patrick’s Kathedrale veröffentlichte 1729 einen ‚bescheidenen und wohlerwogenen Vorschlag’ um die sozialen Probleme seiner Zeit zu lösen: Die Kinder armer Leute sollten geschlachtet und den vornehmen Herrschaften als Festtagsbraten verkauft werden. Die Idee konnte sich bislang nicht durchsetzen, Obdachlosigkeit und Arbeitslosigkeit haben zugenommen.
Ein Manager in grauem Anzug mit ‚mid-Atlantic accent’ sitzt neben mir im langweilig-cool desingten Cafe in den Docklands und liest die Irish Times. Ganz der Typ slave-driver, der von seinen Untergebenen die Hingabe eines japanischen Kamikaze-Piloten verlangt und bereit ist, sie dafür mit einer Handvoll chicken-feed zu vergüten.
Celtic Tiger? Es gibt nicht nur die klinisch reinen - sparkless - Docklands, in denen alle krank wirken und keiner betrunken ist, die Northside ist überwiegend noch immer den Verlierern des Aufschwungs vorenthalten in der Southside dominieren Boutiquen, noble Einkaufsstraßen und die Schuluniformen privater Schulen.
„Wären die Armen nur nicht so hässlich,
dann wäre das Problem der Armut leicht gelöst.“
[Oscar Wilde: Sätze und Lehren zum Gebrauch für die Jugend]
Außerhalb der Innenstadt liegt noch immer das Arbeiterviertel Cabra, das aus langen Reihen kleinster Häuser aus Backsteinen besteht und zu Dublin gehören noch immer die berüchtigten Mietskasernen in Crumlin oder Ballyfermot, die selbst hartgesottene Einwohner als no-go-area bezeichnen. Das Dublin des „Ulysses“ sollte keiner heutzutage erwarten, selbst wer vor zwanzig Jahren zuletzt in Dublin war, wird die Stadt kaum wieder erkennen, aber immer noch sind zahllose Homeless, Jobless und Travellers in den Strassen zu sehen. In wenigen Ländern in der EU ist die Schere größer auseinander gegangen, die Kluft zwischen Gewinnern und Verlierern größer.
Nach dem Beitritt der neuen EU-Mitglieder wurde aus dem Celtic Tiger – so sagen viele Iren – schnell ein Kätzchen, billiger geht es nun ohne Frage in anderen Ländern und die Lebenshaltungskosten sind zwischenzeitlich exorbitant gestiegen.
In Dublin ist täglich das Theaterstück „The Last Days of the Celtic Tiger“ zu sehen, die Aktienkurse sanken allein in den letzten beiden Monaten um fast 20%, wer in Pensionsfonds investiert hat, musste deutliche Verluste in Kauf nehmen und täglich fallen die Fonds weiter. Die Preise für Immobilien sind in diesem Jahr um 5% gesunken. Die neue Mittelklasse lässt sich jedoch (noch) nicht einschüchtern und genießt auf dem Wochenmarkt in Temple Bar die Irischen Austern von der Westküste mit einer Flasche Pinot Blanc. „When the going gets tough, the tough go shopping“ titelte der Irish Independent am 24. November und zitiert zur Bestätigung dieser These George Best:
“90 per cent of our money was spent on foreign holidays, fancy frocks, overpriced restaurant meals and fast cars – not to mention the booze. The rest was just wasted.”
BusterG - 29. Nov, 14:43
In Touristenführern steht ja gerne viel Unsinn, den keiner braucht. Etwa dass die O’Connel-Bridge die einzige in Europa ist, die breiter als lang ist oder etwa dass der Chipper (der Fish & Chips-Verkäufer) Burdock der beste der ganzen Stadt ist, man aber peinlich darauf achten möge, dass die eifrigen Bediensteten keinen Essig über die Chips geben. Was freilich barer Unsinn ist, weil die Angestellten dies nie tun. Andererseits wären Touristen gut beraten über das seltsame Gemisch, das sie unter dem Label ’Fish & Chips’ erstehen, etwas von dem überall herumstehenden Essig zu gießen, dann schmeckt’s wenigstens nach Essig. Solcher und anderer Unsinn findet sich. wie gesagt, seitenweise in den Touristenführern und so nimmt es nicht wunder, dass sich schon am Nachmittag Schlangen von Menschen vor Leo Burdocks bilden, die alle den Satz „no vinegar please“ auswendig gelernt haben, aber gar nicht brauchen.
Was Mensch im Zentrum von Dublin hingegen ziemlich sicher braucht und sehr selten findet ist eine Toilette, die ohne Gummistiefel zu benutzen ist. Da hilft zwar kein Baedecker, aber Erfahrung: Die saubersten Toiletten in Großstädten finden sich meiner Meinung nach meist in Museen für Gegenwartskunst, weil sie meist relativ neu erbaut bzw. renoviert und die Museen selten frequentiert sind. Und nach erfolgreichem Test kann bedenkenlos empfohlen werden: Wer in Dublin auf der Southside ein Bedürfnis hat, gehe in das Irish Museum of Modern Art in der Military Road und in der Northside in die schon erwähnte Dublin City Gallery, Parnell Square North und finde dort seinen Frieden.
Und wenn man schon mal dort ist, kann man sich ja für lau erkundigen, was für ein Messie der Francis Bacon war, und das Bacon Studio besuchen oder im ehemaligen Militärkrankenhaus auf der Southside die New Media Akquisitionen auf sich wirken lassen, die unter dem wunderbaren Titel ‚(I’m always Touched) By Your Presence, Dear’ ausgestellt werden ...
[Bacon-Studio, Dublin City Gallery. Buster 2007]
BusterG - 28. Nov, 15:33
[Ireland’s Eye - Howth, Dublin. Buster 2007]
In der Irischen Mythologie war ‘My Brazil’ eine mystische Insel im Atlantik, die weder Meer noch Land sondern irgendwie beides war. Nur alle sieben Jahre soll sie sichtbar gewesen sein, nach einer anderen frühen Legende nur an bestimmten Tagen zu Sonnenaufgang. Sie war bekannt als die Insel des Lebens, der Wahrheit, der Freude, der Frauen und der Äpfel – ist doch schon mal was.
Wer nicht so früh aufstehen oder so lange warten will, gehe in die
>The Hugh Lane<, Parnell Square North und sehe sich ‚My Brazil’ das Patrick Collins 1963 gesehen und gezeichnet hat an.
[Howth Harbour, Dublin. Buster 2007]
Seehunde sind im Übrigen das Wahrzeichen des Fischerhafens Howth in Dublins äußerstem Norden und ebenso zahlreich und wohlgenährt wie die Fischhänder, die Fischabfall zum Tunfischpreis an die Touristen und einheimische Familien verkaufen das diese wiederum an die wohlgenährten Seals verfüttern.
BusterG - 27. Nov, 16:15
[Moore Street, Dublin. Buster 2007]
Von der boutiqengesäumten und glitzernden Henry Street zweigt die Moore Street ab. Solch harte Unterschiede machen die Northside aus. Hier wird Obst und Gemüse von nahegelegenen Grossmärkten verkauft - angeliefert wird teilweise noch mit Pferdewagen. Vieles ist zweite Wahl oder einfach vom Laster gefallen und entsprechend günstig zu haben. In den Gebäuden links und rechts residieren Schlachter, daneben Ramschläden, Cafés und afro-karibische, asiatische und slawische ‚Spezialitäten’läden: Wer schon immer mal ein deutsches Weizenbier für 5 Euro die Flasche beim Kenianer kaufen wollte, einen 10-Kilosack norwegischen Trockenfisch beim Vietnamesen oder Keanu auf polnisch den Untergang der Titanic kommentieren hören will, ist hier so was von richtig.
Fest in irischer Hand dagegen ist der Schwarzmarkt mit Zigaretten, die etwas zwielichtigen Jungs in Trainingsanzügen, die ständig >need ’bacco< murmeln, reagieren allerdings verständlicherweise etwas unfreundlich auf gezückte Fotoapparate.
BusterG - 26. Nov, 16:05
[Harold’s Cross, Greyhound Stadium Dublin. Buster 2007]
Go to the Races oder go to the dogs: In Dublin finden fast jeden Abend Hunderennen statt, etwa im Greyhound Stadium Harold’s Cross. In Irland geht traditionell die ganze Familie zum Hunderennen, aber auch eine Runde durch die Pubs beginnt zunächst oft at the dogs. Jeder streunt zwischen Wettbüro und Stadium herum mit einem Plastikbecher und einem Snack in der Hand. Es ist etwas gewöhnungsbedürftig, Zehnjährige nachts um 23 Uhr am offiziellen Schalter vor sich wetten zu sehen. Selbstverständlich ist das auch in Irland nicht erlaubt, aber hier wird das Verbot offensichtlich weniger strikt gehandhabt (wie im übrigen auch das Fahren ohne Fahrerlaubnis, aber das ist eine andere Geschichte).
Sobald der Lederball, der den Hasen mimt, sich in Bewebung setzt, grölt das ganze Stadion selbst bei Minusgraden markerschütternd. Mindest-Wetteinsatz ist im offiziellen Wettbüro 1 EUR, bei den Buchmachern direkt im Stadium liegt der Reiz beim ‚last bedding’ nachdem das offizielle Büro bereits geschlossen hat und die Einsätze beginnen ab 10 EUR.
Meine beste Quote war immerhin 1:11, Reingewinn am gesamten Wettabend unglaubliche und gänzlich steuerfreie 2,50 EUR – freilich ohne Eintritt (verbilligt: 5 EUR) und natürlich auch ohne konsumierten Alkohol, der bei den aktuellen Temperaturen getrost als Survival-Investition verbucht werden kann.
BusterG - 25. Nov, 18:53
[Temple Street, Dublin 2007}
„Nichts hat im modernen Leben eine solche Wirkung wie eine gute Banalität.“ [Oscar Wilde: Ein idealer Gatte]
BusterG - 24. Nov, 09:16
[Liffey-Schmonzette, Buster 2007]
As he set foot on
O’Connel bridge
A puffball of smoke
Plumed up from
The Parapet.
[Joyce: Ulysses, 125]
BusterG - 23. Nov, 12:23
[The Famine Sculpture (von Rowan Gillespie), Custom House Quay am Ufer der Liffey, Dublin. Buster 2007]
Ich gehöre ganz sicher nicht zu jenen, die krampfhaft versuchen mit der Geschichte eines Volkes seine heutigen unsäglichen Gewohnheiten pausenlos zu rechtfertigen. Es kann aber doch nur an der großen Hungersnot (irish potato famine) zwischen 1845 und 1849 liegen, warum heute so hemmungslos viel und ungesund gegessen wird. Immerhin verhungerten wegen schweren Kartoffelmissernten, dem Hauptnahrungsmittel der Bewohner, rund fünfhunderttausend Menschen in grade mal vier Jahren und über zwei Millionen wanderten aus, zum überwiegenden Teil in die USA.
Das hilft vielleicht zu erklären, warum Iren permanent in Angst vor einer akuten Kartoffelkrise leben und im Pub selbst zu Spaghetti oder Pizza noch eine ordentliche Portion chips serviert wird: Die fetttriefende, frittenverliebte, gewürzlose Küche, in der die wichtigsten Hilfsmittel Mikrowelle und Friteuse sind, dominiert trotz aller Fusion-Ansätze und ist in den Straßen nahezu allgegenwärtig. Dies setzt sich natürlich auch beim reichhaltigen Frühstück, genannt >Full Irish<, konsequent fort. Wenn man Glück hat, ist es wenigstens nicht gekocht sondern gebraten, ein Attentat auf den Cholesterinspiegel und pures Hüftgold bleibt es dennoch und wird in traditionell überbordenden Portionen serviert.
Mein Landlord und die Dame des Hauses, die mir zum bezahlbaren Preis von unter 30 Euronen Bed & Breakfast unterm spitzgiebligen Vorortdach der Northside gewähren, meinen es wirklich zu gut mit mir: Mein Frühstück beginnt mit einem Orangensaft und Cerealien (an dieser Stelle ist mein Hunger gestillt, ich könnte unbeschwert den Tag beginnen. Aber weit gefehlt). Dann kommen ein Spiegelei, jeweils zwei verschiedene Schweinswürstchen, viel bacon, ein Teller gebratene Pilze und zwei gegrillte Tomaten in einem zweiten Gang. Den dritten Gang eröffnet der black pudding (Blutwurst mit Hafergrütze in Scheiben gebraten), gefolgt von baked beans, kipper (heißer Hering), white pudding (gebratene, undefinierbare, helle Wurst) und ein Schälchen porridge (in wässriger Milch arg zerkochte Haferflocken), dazu gibt es Sodabrot. Hier spätestens glaube ich mich jenseits von Gut und Böse - es kommt aber noch eine Potato Cake mit grobem Apfelmus und Toast mit gesalzener Butter und Orangenmarmelade. Dazu verabreicht man mir kannenweise Schwarztee bis zum drohenden Tanninkollaps.
Mein zaghafter Hinweis am zweiten Tag, dass ich Morgens mit Cerealien und etwas Obst ganz und gar zufrieden zu stellen sei, wurde leider sehr falsch verstanden und hatte gegenteilige Wirkung: Zwischenzeitlich werden nach dem dritten Gang und vor der Potato Cake noch in Honig marinierte, geröstete Pampelmusenscheiben mit heißem Räucherfisch als Zwischengang serviert. Beide Hausbesitzer stehen dabei wie die Wächter des Dublin Castle bedrohlich hinter mir und kontrollieren streng, ob ich nichts dem Hund ‚Quincy’ gebe. Jeglicher Widerstand ist zwecklos, ich habe offen gestanden zwischenzeitlich kapituliert vor der irischen Gastfreundschaft und versuche das Beste aus dem Tag zu machen und schließlich ist mit Oscar Wilde „Mäßigung (…) eine verhängnisvolle Sache, denn nichts ist so erfolgreich wie der Exzess.“ [Die Seele des Menschen unter dem Sozialismus].
Es könnte ja schlimmer kommen … vielleicht gibt morgen ja noch zusätzlich etwas Lachs mit Rührei, Muschelsuppe, ein blutiges Minutensteak und zum Abschluss ein kleines Pfefferminz?
BusterG - 22. Nov, 10:58