Der obszöne Abgrund ...
Da wird einer geboren im heimeligen Solothurn am 23.6.1931. Ganz Eidgenosse lernt er zunächst den Bankkaufmann und arbeitet in einer Bank. Er kämpft sich durch den Schweizer zweiten Bildungsweg, studiert Nationalökonomie in Genf, Bern und Berlin, habilitiert in Bern um schließlich einer der Soziologen der APO zu werden: Zunächst an der Uni Bochum, dann an der FU Berlin. Soweit so gut, aber wie viele Soziologen und Bankkaufmänner finden sich in Kindlers neuem Literatur Lexikon und im Kritischen Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur?
ICHWERWOWIRICH
Ist mein Hirn ein Fremder oder eine Fremde?
Wo bin ich, wenn Ich ein Anderer ist?
Was wären meine Hände ohne meine Augen?
Was tun meine Ohren ohne meine Füsse?
Was wäre mein Mund ohne meine Zunge?
Dürfen meine Hände alles, was mir verboten ist?
Was wäre meine Zunge ohne meinen Mund?
Was weiss ich von meinen Händen?
Was weiss ich von meinem Hirn, meinen Augen, meiner Nase, meinem Geschlechtsteil?
Mache ich mich oder werde ich gemacht oder gibt es etwas Drittes?
Sich einzeichnen in die eigenen Augen, bis es fremde sind.
Was macht ein Glied ohne Körper?
Da er nicht einer, sondern mehrere zugleich ist, kann er nicht sich selbst wählen (Cioran).
Die strengen Ichs lachen. Sie erzählen sich viele Geschichten, ohne sie zu erzählen.
Die Gesellschaft, ohne mich, bleibt Gesellschaft.
Das Kapital ohne mich bleibt Kapital.
Das Kapital ohne die Andern gäbe es nicht.
Gibt es Bilder ohne die Andern?
Hat man mich erfunden?
Ich schreibe und male mit der Hand und ich male und schreibe nicht mit der Hand; mein Hirn macht es.
Das Profil einer Frau, frontal.
Das Profil eines Mannes in einer Frau.
Wahr-Nehmung ist eine Wüste.
In meinem Kopf leben gegen meinen Willen die Bauern und Knechte weiter, meine Vorfahren. Sie machen sich über mich lustig.
Die Sprache der Gesichter
Warum bin ich nicht meine Mutter.
Ich wäre früher gern mein Vater gewesen, weil er jung gestorben ist.
Die Tatsachen häufen sich.
Ein paar Jahre lang war ich eine blonde Indianerin.
Warum setzt man sich Dinge in den Kopf.
Warum lässt m an sich Dinge in den Kopf setzen.
Auch ich sage Ich
Gefängnisse.
Jedes Haus ist zu klein.
Ein Freund zeigt auf eine Zündholzschachtel und sagt: das Labyrinth.
Wie erinnert man sich als Fledermaus?
Gewalt und Chaos. Sonst ist alles in Ordnung.
Von Fröschen, Knöpfen, Haarbüscheln, Augen und meiner Verstörung.
Ist es derselbe Gerichtssaal?
Der obszöne Abgrund.
[Urs Jaeggi, Text zur Finissage der Ausstellung "Sehen und Denken 22",
Akademie der Künste, 17. Oktober 2004, Berlin]
ICHWERWOWIRICH
Ist mein Hirn ein Fremder oder eine Fremde?
Wo bin ich, wenn Ich ein Anderer ist?
Was wären meine Hände ohne meine Augen?
Was tun meine Ohren ohne meine Füsse?
Was wäre mein Mund ohne meine Zunge?
Dürfen meine Hände alles, was mir verboten ist?
Was wäre meine Zunge ohne meinen Mund?
Was weiss ich von meinen Händen?
Was weiss ich von meinem Hirn, meinen Augen, meiner Nase, meinem Geschlechtsteil?
Mache ich mich oder werde ich gemacht oder gibt es etwas Drittes?
Sich einzeichnen in die eigenen Augen, bis es fremde sind.
Was macht ein Glied ohne Körper?
Da er nicht einer, sondern mehrere zugleich ist, kann er nicht sich selbst wählen (Cioran).
Die strengen Ichs lachen. Sie erzählen sich viele Geschichten, ohne sie zu erzählen.
Die Gesellschaft, ohne mich, bleibt Gesellschaft.
Das Kapital ohne mich bleibt Kapital.
Das Kapital ohne die Andern gäbe es nicht.
Gibt es Bilder ohne die Andern?
Hat man mich erfunden?
Ich schreibe und male mit der Hand und ich male und schreibe nicht mit der Hand; mein Hirn macht es.
Das Profil einer Frau, frontal.
Das Profil eines Mannes in einer Frau.
Wahr-Nehmung ist eine Wüste.
In meinem Kopf leben gegen meinen Willen die Bauern und Knechte weiter, meine Vorfahren. Sie machen sich über mich lustig.
Die Sprache der Gesichter
Warum bin ich nicht meine Mutter.
Ich wäre früher gern mein Vater gewesen, weil er jung gestorben ist.
Die Tatsachen häufen sich.
Ein paar Jahre lang war ich eine blonde Indianerin.
Warum setzt man sich Dinge in den Kopf.
Warum lässt m an sich Dinge in den Kopf setzen.
Auch ich sage Ich
Gefängnisse.
Jedes Haus ist zu klein.
Ein Freund zeigt auf eine Zündholzschachtel und sagt: das Labyrinth.
Wie erinnert man sich als Fledermaus?
Gewalt und Chaos. Sonst ist alles in Ordnung.
Von Fröschen, Knöpfen, Haarbüscheln, Augen und meiner Verstörung.
Ist es derselbe Gerichtssaal?
Der obszöne Abgrund.
[Urs Jaeggi, Text zur Finissage der Ausstellung "Sehen und Denken 22",
Akademie der Künste, 17. Oktober 2004, Berlin]
BusterG - 23. Jun, 01:04
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