Sonntag, 23. Juli 2006

Speiche

„Fidje Pappendeik aber sprang mit behender Schnelligkeit auf das Fahrrad, fuhr ein Stück über die holperige Wiese hin, und auf einmal – – ehe jemand daran dachte, den Störenfried – – auf einmal – ohne daß irgend jemand bemerkte – – niemand ahnte oder war daraufgefaßt – – kurz, auf einmal hob sich das Fahrrad, und Fidje Pappendeik fuhr auf einem ganz gewöhnlichen Fahrrad, nicht anders, als wie jeder Radfahrer fährt, fuhr aber durch die Luft, auf, über Luft, fuhr schräg aufwärts in die Wolken.“
[Joachim Ringelnatz: Erzählungen, Der arme Pilmartine]

Herbert Watterott, genannt „Speiche“, lebendes Archiv der „Großen Schleife“ und aller Käsesorten – kommentiert heute zum letzten Mal für die ARD eine Etappe der Tour de France. Thomas Stillbauer heult für uns.

Einsamkeit der Anderen

"Einsamkeit und Faulheit
umschmeicheln die Phantasie."
[Fjodor M. Dostojewskij,
Die Brüder Karamasow, 1880]




Speed Dating war letzte Woche
Sieben Kontakte à fünf Minuten
Fünfunddreißig Minuten für 29 Euro.
Was fünf Minuten lang sein können.
Sagt er noch und ich nicke.
Der Computer meldet Übereinstimmungen.
Automatisch.

Für 19 Euro heute Kuschelparty.
Einhundertzwanzig Minuten!
Ich habe ja abgeraten bei dem Wetter.
Irgendeiner oder eine hat immer das Duschen vergessen
und selbst wenn nicht:
Bei dem Wetter ist das nach einer halben Stunde
Egal eigentlich.
Vielleicht, hat er zaghaft eingewendet,
ist’s klimatisiert beim kuscheln.

Samstag, 22. Juli 2006

Heute

Heute Vormittag noch letzte Untersuchungen, ich komm mir vor wie im Primatenzentrum. Der dümmliche Assistenzarzt hat heute darauf hingewiesen, dass wir schon im letzten Jahr eine Vereinbarung getroffen haben, die Diskriminierung weitgehend ausschliessen soll. Da hat er nur teilweise Recht, ich habe mich nur verpflichtet seine ähem Persönlichkeit zu respektieren und ihn nicht mehr „das Personal“ zu nennen. Schade eigentlich - aber ich deklinier vorsichtshalber noch mal so schwierige Begriffe wie „Sarkasmus“ und „Ironie“, nicht dass der Arzt, der besser Wirt geworden wäre, da was falsch versteht und mich hinterher zutextet.

Vom religiösen Sozialisten

„Ich werde niemals einen Staat oder irgendein System mit der Waffe verteidigen, weil das für mich barbarisch ist. Wenn ich Sie umbringe, kann ich nicht mehr mit Ihnen reden. Ich bin seit dreißig Jahren Anhänger Tolstois und ungefähr so etwas wie ein religiöser Sozialist.“
Mit diesen Worten begründete Oskar Maria Graf, geboren am 22. Juli 1894 in Berg, 1958 seine Verweigerung des Kriegsdienstes vor der Einbürgerungs-behörde der USA, die ihm nach 15-jähriger Wartezeit beim Eid auf die Landesverfassung die Verpflichtung erließ, Amerika mit der Waffe zu verteidigen.

„Ein verjagter Dichter, einer der besten“ nannte ihn Bertolt Brecht in seinem Gedicht „Die Bücherverbrennung.“ Und das nicht von ungefähr, forderte doch Graf alle auf, seine Bücher zu verbrennen.

„In der Flucht in irgendetwas Glaubens- oder Vernunftähnliches, in „Ideen“ versuchen wir einen Halt zu bekommen und verlieren dadurch das eigene Leben. Leben, leben muss man, meine ich, leben und sonst nichts. So einfach klingt das und keiner kann’s! …“ [Oskar Maria Graf: Brief an Gustav und Else Fischer, 1959]

Jetzt kommen se wieder Busweise

Liza Minelli war vorgestern schon da,
zum Singen "Our love is here to stay";
200 Bilder für 10 Milliarden Euro Versicherungssumme,
Ausstellungskosten von 10 Millionen,
Breakeven bei 600.000 Besuchern,
150 Marilyns auf einmal,
Kulturereignis des Jahres das,
Jetzt kommen se wieder Busweise,
Denk ich noch,
Hoffentlich verdient die Telekom auch,
genug jetzt - nix gegen Roy Lichtenstein aber:
Genug jetzt: Rücksturz zu dem Herrn F. sein Hildchen.
Das muss jetzt reichen ...

[Hildchen © Herr F]

Freitag, 21. Juli 2006

Früher (vor 56 Jahren) war ...

... Tuffi in Wuppertal.
Zugegeben: Ich mach das hier nur, um dem ganzen Katzenkontent mal was Gewichtiges entgegenzusetzen.

Früher (vor sechs Monaten) war ...

... alles besser anders: 24 Grad minus um 14 Uhr, Nachts wurde es dann frischer. Gab auch viel mehr von dem weißen Zeug, wie heisst das gleich noch mal?

[Leutasch, Platzl, 21/12/05]

Hamburg Eppendorf

“Nur Worte und Worte,
aus dem Herzen nichts.“
[William Shakespeare]



Hamburg Eppendorf, Vollpension, seit drei Tagen „chillen“.
Früher nannte man das rumgammeln, rumlungern,
vielleicht auch bettlägrig sein.
„Chillen“ klingt doch gleich viel positiver, Weltzugewandter.

Die Ärzte lateinisieren infantil bei Kunden = Ich-Kontakt.
In Japan übrigens, werden alle Fachtermini in Deutsch gesprochen.
Situationskomik mitten im fernsten Osten wenn jemand
„Mittelknochenbruch“ sagt, so ganz unerwartet.

Ärzte hier jedenfalls mit
schlechtestem Latein,
Ich würde ja gern helfen,
aber sie wollen ja
eh nicht verstanden werden.

Morgen mach ich ein Upgrade von
Vollpension zu All Inclusive.
Nicht umsonst heisst es doch:
„Holsten knallt am dollsten.“

Früher (vor 31 Jahren) war ...


... auch nicht immer alles einfach im Sommer.
[Fabulous Furry Freak Brothers legen sich ein Groupie zu, 1975]

Donnerstag, 20. Juli 2006

Operation Walküre

Alljährlich am 20. Juli wiederholt sich hierzulande die Farce: Jene, derer gedacht wird, waren nationale Militaristen die in den letzten Kriegstagen wegen aussichtloser militärischer Lage sich zum Widerstand unter dem Decknamen „Walküre“ zusammengeschlossen haben und die im Erfolgsfall eine Militärdiktatur vorsahen. Wir hatten wahrlich bessere Widerstandkämpfer …

Narzissmus des Todes

„Die Spielregeln der Pataphysik sind schrecklicher als alle anderen. Sie ist ein Narzissmus des Todes, eine tödliche Exzentrizität. Die Welt ist eine eitle Pestbeule, eine sinnlose Wichserei, ein Wahn aus Talmi und Pappmaché, aber Artaud, der so denkt, denkt noch, dass aus diesem wegen nichts und wieder nichts geschwenkten Schwanz eines Tages ein echtes Sperma emporschießen könnte, dass aus einer karikaturhaften Existenz das Theater der Grausamkeit auferstehen könnte, das heißt eine reale Virulenz. Wohingegen die Pataphysik nicht einmal mehr an Sex und ans Theater glaubt.“
[Jean Baudrillard, Pataphysik, 2002]

Mittwoch, 19. Juli 2006

Busters Thekengeflüster

Die Briten sind eigentlich
auch nur Germanen
die im Ausland leben
weil’s hier zu heiß ist

die Welt zur Hölle machen

„Wir können heute die Welt zur Hölle machen, wir sind auf dem besten Wege dazu, wie Sie wissen.“
[Herbert Marcuse: Das Ende der Utopie]

So der vor 108 Jahren in Berlin geborene Herbert Marcuse zur Einstimmung. Heute erreicht mich folgende eMail von einem liebenswerten Kollegen, der eine Gastprofessur an der Universität in Beirut wahrnimmt:

„Heute Vormittag hat die israelische Luftwaffe erstmals die libanesische Hauptstadt Beirut angegriffen - Beirut ist nicht evakuiert. In der Nähe meines Büros schlagen Bomben ein, die Israelische Luftwaffe fliegt fortwährend Angriffe. Israelische Bodentruppen rücken im Süden des Libanon vor. Washington hat Israel grünes Licht für die Bombardierungen gegeben, bis die Infrastruktur der militanten Hisbollah-Bewegung zerstört sei, berichtete die Guardian heute unter Berufung auf britische Diplomaten. Die New York Times berichtete, Israel und die Vereinigten Staaten vereinbarten, dass die Bombardierungen von Hisbollah-Zielen noch eine zweite Woche dauern sollten. Anschließend werde US-Außenministerin Rice in die Region reisen, um sich für die Einrichtung einer 19 Kilometer breiten Pufferzone im Südlibanon einzusetzen. Von der israelischen Luftwaffe werden noch immer die Hauptverkehrsstrassen, auf denen die Zivilisten flüchten, bombardiert. Fast ein Fünftel der Bevölkerung des Libanon befindet sich zwischenzeitlich auf der Flucht. Bis heute wurden über 200 Zivilisten im Libanon von der israelischen Armee getötet. Ganze Dörfer wurden von der israelischen Luftwaffe dem Erdboden gleichgemacht. Ganz Libanon, dessen ganze Bevölkerung, steht aus israelischer Sicht für Hisbollah. Was hat dieser Krieg mit drei entführten israelischen Soldaten zu tun?“

Dienstag, 18. Juli 2006

Neues vom Spacko-Puddingdampfer

Ich bin DER geborener Durchblicker mitten in all diesen Silberautos auf der Rheinfähre, absolut Randgruppen- wie Mainstreamtauglich, Parallelgesellschaftkompatibel, biologisch und empirisch ausgestattet mit erklecklichem Migrationshintergrund und jeder Menge interkulturellem Kommunikationshastdunichtgesehn. Mit 40something bestenfalls in der Blüte meiner Jahre und mit jedem Zeitgeist per ich und dich.

Aber manchmal versteh ich nix, niemand, null. Wie heute auf der Rheinfähre zwei Dreizehn-Vierzehnjährige Zwerge, zwei Armlängen von mir entfernt:

„Hast ne Ziese? Hatte nur ne Assischale und ein Blechbrötchen heute und krieg jetzt den fetten Fressflash.“
„Komm doch mit zu mir. Die Erzeugerfraktion hat sich mit dem Kniebeißer verpisst.“
„No Ellies? Hypertonisch, gibt’s auch Herrenhandtäschchen?“
„Klar, der Alugriller hat immer.“
„Vierlagig.“
„Was glotzt denn der Spacko-Puddingdampfer in der Schnittenschaukel da?“

Die letzte Frage galt offensichtlich mir. Ich setzte ein ridiküles Grinsen auf, nickte pastorenhaft-wissend, als ob sich die finalen Lösungen aller Geiseln der Menschheit in meinem abgegriffenen braunen Lederköfferchen auf dem Beifahrersitz befinden würden, und rollte - die Fähre war zwischenzeitlich angekommen - ins Rechtsrheinische.

Kommunikation ist das wechselseitige Übermitteln von Daten, die einen festgelegten Bedeutungsinhalt haben, mit Hilfe einer mir weitestgehend unbekannten Sprache.

Montag, 17. Juli 2006

abweichende ideologische Auffassungen

Rainer Kirsch, am 17. Juli 1934 in Sachsen geboren, ist Autor von Lyrik, Dramen, Erzählungen, Übersetzungen, Essays, Hörspielen und Kinderbüchern. Von der Universität in Jena wurde er wegen „abweichender ideologischer Auffassungen“ relegiert und „zur Bewährung“ in die Produktion geschickt. So wurde er Druckereihilfsarbeiter, Chemiearbeiter und Rübenernter in einer LPG und blieb doch immer Schriftsteller. 1973 wurde er aus der SED ausgeschlossen aber war dennoch weiter beschäftigt mit Aufträgen insbesondere für Hörspiele und Kinderbücher, die meist nicht in seine Werksausgabe aufgenommen wurden. Er zeichnet auch verantwortlich für eine beachtliche Menge an Übersetzungen aus dem Russischen und aus dem Georgischen. Unter anderen übersetzte er Jessenin und Achmatowa, Majakowski und Mandelstam. Nach der Wende, als er der erste frei gewählte Präsidenten des DDR-Schriftstellerverbandes wurde, war er Gegner dieser Art der Wiedervereinigung.

Sie schrie, kaum dass ich da war. Wenn ihr Mund
Mich küsst, da wo mir gut ist, in der Mitte
Sagte sie: Salz ist süß, und wenn die dritte
Stunde am Morgen kam, war noch kein Grund
In ihr, sie war so nass wie als sie kam
Wenn ich sie rührte, und erfand noch Worte
Für wie ich handelte und womit, die Orte
Vermengten sich sehr, weil sie’s wörtlich nahm
Dann schlug es fünf. Sie ging zur Arbeit. Zuvor
So, manchmal, heilt die Nacht des Tags Gebresten.
Wusch sie die Gläser ab, sie käme wieder
„Ein schön endloser Kehrreim, wie alte Lieder“
Und sprach mir nach der dritten Nacht ins Ohr:
„Mit dir ists das. Ich will: Sichres, verstehe ...“
Nun geht sie sanft in eine schöne Ehe.

[Rainer Kirsch: Ballade]

Sonntag, 16. Juli 2006

Reset, unlogisch

„Auch der vernünftigste Mensch bedarf von Zeit zu Zeit wieder der Natur, das heißt seiner unlogischen Grundstellung zu allen Dingen“. [Friedrich Nietzsche]

... and a long way from home

Wenn das Verbrechen der Größe nach aufgestellt ist und die Namen Joe, William, Jack und Averell trägt, Hunde „Rantanplan“ heißen, dümmer als der eigene Schatten und Pferde die besseren Schachspieler sind, kann nur der vor fünf Jahren in Brüssel gestorbene Maurice de Bévère (Morris) seine Hand im Spiel haben.

70 Jahre Spanischer Bürgerkrieg

„Um fünf Uhr morgens stand ich an der Ecke der Brustwehr. Das war immer eine gefährliche Zeit, denn wir hatten die Morgendämmerung hinter unserem Rücken, und wenn man den Kopf über die Brustwehr hinaussteckte, hob er sich deutlich gegen den Himmel ab. Vor dem Wachwechsel sprach ich mit dem Wachtposten. Plötzlich, mitten im Satz, spürte ich - nun es ist sehr schwer zu beschreiben, was ich spürte, obwohl ich mich mit äußerster Anschaulichkeit daran erinnere.
Grob gesprochen hatte ich das Gefühl, mich im Zentrum einer Explosion zu befinden. Es war wie ein lauter Knall und ein blendender Lichtblitz, der mich ganz umschloss, zugleich fühlte ich einen gewaltigen Stoß - keinen Schmerz, nur einen heftigen Schock, wie man ihn bei einem elektrischen Schlag bekommt. Dabei hatte ich ein Gefühl äußerster Schwäche, als ob ich zerschlagen werde und zu einem Nichts einschrumpfte. Die Sandsäcke vor mir traten in eine unendliche Entfernung zurück, Ich glaube, man fühlt dasselbe, wenn man von einem Blitz getroffen wird, Ich wusste sofort, dass ich getroffen worden war, aber wegen des Knalls und Blitzes dachte ich, es sei von einem Gewehr, das zufällig in der Nähe losgegangen sei. Alles ereignete sich in einem Zeitraum von weniger als einer Sekunde. Im nächsten Augenblick wurden meine Knie weich und ich fiel, dabei schlug mein Kopf mit einem heftigen Schlag auf den Boden, was ich zu meiner Erleichterung aber nicht spürte. Ich hatte ein dumpfes, betäubendes Gefühl, das Bewusstsein, dass ich sehr schwer verwundet worden war, aber keinen Schmerz in normalem Sinne.“ [George Orwell: Mein Katalonien, 1938.]

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Seit langen das beste...
Seit langen das beste Gedicht was ich gelesen habe....
Laura Kinderspiel - 12. Nov, 11:30
wow..
..echt "hot" diese Sonnenblumen.. seit langem die beste...
jump - 6. Sep, 11:53
Danke
Danke
huflaikhan - 28. Aug, 08:25
Ich mag sowas ja sehr...
Ich mag sowas ja sehr gerne lesen, vor allem richtig...
huflaikhan - 26. Dez, 16:15
Hatschi
... ok, bin wieder auf dem Boden der Tatsachen.. ;-)
jump - 17. Dez, 19:18
So weit!
Ja genau, also doch schon gar sooo weit ;-).
BusterG - 17. Dez, 00:26
Das ist in der Nordeifel:...
Das ist in der Nordeifel: Heimbach in Nebel und Sonnenschein.
BusterG - 17. Dez, 00:24
Geschätzte Wassertemperatur:...
Geschätzte Wassertemperatur: ca zwei Grad, also vielleicht...
BusterG - 17. Dez, 00:23
Danke
Danke
BusterG - 17. Dez, 00:21
Natürlich ist das ...
... AUCH an Dich gewandt. Ich würde doch sonst nicht...
BusterG - 17. Dez, 00:21

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